Die TG Camberg wurde 1848 ins Leben gerufen / Eine Damenriege: Noch 1922 war der Vorstand beleidigt
BAD CAMBERG (Petra Hackert). Ein Menschenauflauf hat sich vor dem Polizeiposten an der Obertorstraße gebildet. Es ist dunkel, die Fläche abgesperrt. Nein, keine Demonstration, obwohl es darum geht, etwas zu zeigen. Im Gebäude gegenüber, der ehemaligen „Stockmann’schen Wirtschaft“, wurde 1884 die TG Camberg wiedergegründet. 1848 ins Leben gerufen, hatte sich die Turnerbewegung im Taunusstädtchen zunächst gut entwickelt. Doch die Freiheitsrechte, die der Herzog seinerzeit gewähren musste, blieben nicht bestehen. Die Vereinsmitglieder fürchteten um Leib und Leben. Die Gründungsakten wurden verbrannt, die Geräte verkauft, die Fahne versteckt.
175 Jahre später hält Thomas Rosa auf der Obertorstraße eine Miniaturversion der TG-Fahne in der Hand. „Niedlich!“ Die Menschen auf der Straße müssen schmunzeln. Der Zweite Vorsitzende der Turngemeinde ist im Archivteam aktiv, hat gemeinsam mit Heinz Müller, Anni Nicklas, Wolfgang Kaeseler, Ottheinrich Lang und Karl-Josef Pflüger Akten und Unterlagen gewälzt. Aus der neueren Zeit gibt es viel mehr, kistenweise und digitalisiert. Je weiter es zurückgeht, desto schwieriger wird’s.
Erste Nationalversammlung in der Paulskirche
Es sei viel Arbeit, das alles zu sichten, und sie sei noch nicht zu Ende, sagt Rosa. Unschätzbar, gerade was die Gründungszeit angeht, ist hier die Hilfe aus den Archiven. Damit die Jubiläumsfeier - zunächst auf der Straße und dann in der Hohenfeldkapelle – etwas besonderes wird, hat man diese Suche in den Mittelpunkt gerückt. Stadtarchivar Peter Karl Schmidt und Ottheinrich Lang beantworten Fragen, führen zurück in die Zeit der Demokratiebewegung, die Revolution von 1848 und die erste Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.
Er hat einmal unentschuldigt bei der Turnstunde gefehlt und war nicht in der Mitgliederversammlung. Deshalb wurde Florian Mai ausgeschlossen - Thomas Rosa hat die alten Protokolle gesichtet
Die Camberger Turner waren Teil dieser Zeit. Doch wo genau der Verein gegründet wurde, ist nicht mehr bekannt. „Diese Unterlagen fehlen“, sagt TG-Vorsitzender Stefan Schütz. „Die frühere Stockmann’sche Wirtschaft in der Obertorstraße 27 ist der erste Gründungsort, den wir kennen, der Ort der Wiedergründung 1884.“ Heute gehört das Haus der Familie Schmitt. Gemeinsam mit Ingrid Schmitt enthüllt er eine Tafel, die von nun an auf dieses denkwürdige Ereignis hinweist.
Drei Protokollbücher, in Sütterlin verfasst
Noch mehr Geschichte: Drei Protokollbücher, das älteste aus dem Jahr 1884, gehören zu den Besonderheiten, mit denen sich das Archivteam befasst hat. Bei der anschließenden Feierstunde in der Hohenfeld- kapelle übergibt Stefan Schütz die Bände an Stadtarchivarin Petra Maurer und Bürgermeister Daniel Rühl (CDU). Es sind echte Schätze. „Niemand von uns uns konnte sie lesen, denn sie sind in Sütterlin geschrieben“, erzählt Thomas Rosa. Die damals erst 18-jährige Laura Menegazzi, Übungsleiterin und FSJ-lerin bei der TG, bot Hilfe an. Sie hat Sütterlin in der Schule gelernt, gemeinsam mit Peter Karl Schmidt die drei Bände für die TG übersetzt.
„Da stehen unheimlich interessante Sachen drin“, sagt Thomas Rosa. So hatte Pfarrer Müller 1922 vorgeschlagen, eine Damenriege zu gründen. Jahrzehntelang war der Turnverein eine reine Männergesellschaft. Die Reaktion auf die Idee des Pfarrers: „Der Vorstand fühlte sich beleidigt“, erzählt Rosa. Erst Jahre später hielten die Damen Einzug in den Verein. Heute wäre es nicht vorstellbar, dass Frauen oder Mädchen nicht zum Turnen gehen dürften.
Die damaligen Regeln waren hart: „Er hat einmal unentschuldigt bei der Turnstunde gefehlt und war nicht in der Mitgliederversammlung. Deshalb wurde Florian Mai ausgeschlossen“, hat Rosa in den Akten gelesen. Beschrieben wird auch, wie die Camberger Aktiven zum Turnfest auf dem Mensfelder Kopf geradelt sind. Dort begannen die Wettkämpfe. Anschließend ging es mit dem Fahrrad wieder zurück nach Hause. Und: „Es wurde viel Theater gespielt.“ Der Freischütz, der Waffenschmied von Worms, der Graf von Monte Christo – das alles brachten die Aktiven auf die Bühne, oft im Saalbau, aber auch auf der Bühne neben der evangelischen Kirche.
Heute ist die TG Camberg mit über 2000 Mitgliedern einer der größten und ältesten Sport treibenden Vereine im Landkreis Limburg-Weilburg. Die Abteilungen haben ihre jeweilige Geschichte teilweise aufgeschrieben. Einiges muss folgen. So etwas wird sichtbar im Jubiläumsjahr und führt dazu, dass die Forschung weitergibt. Das Archivteam würde sich über weiteren Zuwachs freuen.
Auf der Obertorstraße erinnert der Zweite Vorsitzende der TG Camberg, Thomas Rosa, an die Wiedergründung des Vereins 1884. In der Hand hält er eine Miniaturversion der TG-Fahne.
TG-Vorsitzender Stefan Schütz und Ingrid Schmitt enthüllen die Gedenktafel: In der früheren Stockmann’schen Wirtschaft an der Obertorstraße wurde die TG Camberg 1884 wiedergegründet.
TG-Vorsitzender Stefan Schütz übergibt die drei Protokollbücher, das älteste aus dem Jahr 1884, an Stadtarchivarin Petra Maurer und Bürgermeister Daniel Rühl (von links), Fotos Petra Hackert