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TG setzt ganz auf Muskelkraft

Veröffentlichung: Lokalanzeiger (10.02.2023)

Das Salonboot der Turngemeinde ist etwas geschrumpft

BAD CAMBERG. Wird das stattliche Salonboot seiner närrischen Tollität Prinz Markus I., das die Turngemeinde traditionell zur Großfassenacht baut, auch in diesem Jahr wieder der Blickfang beim großen Fassenachtszug sein? Diese Frage stellt sich vor dem Umzug vielen Narren, die den Matrosen seit 120 Jahren mit einem dreifachen „Camberg Helau“ zujubeln.

Der LokalAnzeiger (LA) fragte einfach einmal bei Stefan Schütz, Vorsitzender der Turngemeinde und langjährigem Steuermann des Salonboot nach:

LA: Seit wann fährt das TG-Salonboot durch Cambergs Straßen?

Stefan Schütz (SC): Die ersten uns bekannten Aufnahmen existieren von 1903. Damals noch von Kühen gezogen hat sich das Salonboot in den Jahren immer weiterentwickelt. Anfangs wurden die Salonboote auf landwirtschaftlich genutzten Anhängern aufgebaut und dann, mit der allgemeinen Motorisierung, wurde bis 1992 auf LKWs, die meist von Mitgliedern für etwa 3 bis 4 Monate zur Verfügung gestellt wurden, alle 5 Jahre das TG-Salonboot gebaut. Dafür mussten auch die Werften gefunden werden. So zum Beispiel bei meinem Patenonkel Rudolf Brück, bei Willibald Thies in der Feldscheune oder in der Halle des damaligen Baugeschäfts Traut und bei Adam Martin in der Bahnhofstraße (heute Getränkemarkt).

LA: Wieviel Zeit wurde investiert?

SC: Für den Aufbau eines neuen Salonboots benötigten wir rund 12 Wochen, der Abbau, ohne auch nur ein Loch in dem geliehenen Fahrzeug zu hinterlassen, war dann an einem Samstag erledigt.

LA: Und wie ging es weiter?

SC: 1996 hatte die TG einen LKW aus Beständen der Landwirtschaftlichen Produktionsstäten in der ehemaligen DDR mit dem Baujahr 1964 gekauft. Dieser ist 5-mal an Großfastnacht gefahren, aber leider mussten wir unseren „Tatra“ im vergangenen Jahr aus Sicherheitsgründen abwracken. Die Bremsen und die Kupplung waren, ohne immensen finanziellen Aufwand und Garantie für ein langfristiges Ergebnis, nicht mehr zu reparieren.

LA: Wie sah es mit der Sicherheit aus?

SC: Den LKW hatten wir, um überhaupt beim Umzug mitfahren zu können, durch eine mechanische Blockade der Gangschaltung auf 6 km/h begrenzt – das war eine Dunkelgrauzone auf eigenes Risiko des TG-Vorstands. Diese Lösung wäre bei der Fahrerbesprechung für den Umzug 2023 mit der Polizei in diesem Jahr nicht mehr zulässig gewesen. Ich habe die Position des Steuermanns vor 20 Jahren von unserem leider verstorbenen langjährigen Turner Karl Neuberger übernommen, und bin so das Auge des Fahrers des Salonbootes geworden. Denn der Fahrer des Salonbootes sieht keine Straße, nur die Häuserwände aus dem Seiten-Bullauge. Er orientierte sich ausschließlich an den Armen des Steuermanns im Bug und reagiert  konsequent auf seine Handzeichen.

LA: Und was ist in diesem Jahr vom Auftritt des Salonbootes der Turngemeinde zu erwarten?

SC: Wir haben uns für diese Großfassenacht entschieden, das Salonboot mit Muskelkraft zu bewegen. Die aktive Besatzung des Salonbootes hatte zwar das Ziel, wieder ein großes Salonboot zu bauen und die Tradition fortzusetzen. Es gab aber erhebliche Probleme und Risiken durch unseren Unterbau-LKW, dem Baujahr 1964 musste Tribut gezollt werden und eine Reparatur wäre, wie schon erwähnt, einfach zu aufwändig und viel zu teuer geworden.

LA: Aber ist das nicht ein Jammer, kein stattliches Salonboot mehr beim großen Umzug an Großfassenacht in Bad Camberg? Kleine Ortsgemeinschaften bauen große Wagen, Cambergia Katharina I. und Prinz Markus I., der Elferrat, die weiteren Traditionswagen wie Bachus und Gambrinus, die Schwickershäuser „Schwickinger“ und auch Freundeskreise wie „Leckerbissen aus der Provence“ werden den Zuschauern von großen Wagen zuwinken.

SC: Auch wir haben die Entscheidung nur schweren Herzens getroffen. Aber wie sollen wir unseren rund 2000 Mitgliedern vermitteln, dass Energie gespart werden muss, d.h. die Beleuchtung, Beheizung und das Duschen in der Halle eingeschränkt wird, aber das Fassenachtsschiff verursacht auch Kosten und muss in einer Feldscheune bis zum nächsten Umzug untergebracht werden muss. Nach Abwägung von Faktoren wie Ukraine-Krise, Nachhaltigkeit, Risiken, Machbarkeit und Sicherheit wurde von der Mannschaft einstimmig beschlossen: „Wir bauen ein Schiff, dass mit Muskelkraft bewegt wird“.

LA: Und was wird das närrische Volk zu sehen bekommen?

SC: Nach umfangreicher Planung, koordiniert und maßgeblich ausgeführt von Eva Bäumlisberger, und Materialbeschaffung entsteht seit neun Wochen ein neues TG-Salonboot. Es wird das erste in der Geschichte der TG und somit vermutlich auch der Camberger Fassenacht sein, das ohne Unterstützung durch Maschinen oder Tiere auskommt und keine Abgase produziert.

LA: Wie wird man eigentlich Matrose?

SC: Matrose kann grundsätzlich jedes TG-Mitglied werden, das Spaß mitbringt und sich beim Bau des Salonbootes einbringt. Dabei spielt das Alter keine Rolle. Man ist dabei, solange das Seemannsfieber anhält – es sind Matrosen an Bord, die schon als Kleinkinder angeheuert haben und fast 60 Jahre dabei sind. Bei einer Probefahrt hat sich das neue Salonboot als absolut seetauglich erwiesen und Prinz Markus I. und Cambergia Katharina I. dürfen sich darauf freuen, am Fassenachtssonntag von den Matrosen der Turngemeinde im Salonboot seiner Majestät traditionell am Bahnhof abgeholt und zur großen Parade an der „Alten Post“ geschippert zu werden. So viel Platz ist auch im neuen Salonboot.

LA: Wir wünschen auch dem „kleinen“ Salonboot stets eine Handbreit Wasser unter dem Kiel!

Das Interview führte Jürgen Müller

Im Jahr 1930 zog ein Pferdegespann das Salonboot der Turngemeinde

Erstellt am 13.02.2023 von Redaktion